Margit Schreiner
Das menschliche Gleichgewicht
Endlich Urlaub! Am nächsten Tag geht es auf eine einsame Insel in Kroatien, ohne Komfort, nicht einmal Strom oder Fließwasser, kaum Handyempfang, Selbstversorgung. Seit sechs Jahren genießt die Ich-Erzählerin gemeinsam mit ihrem Lebenspartner und einer befreundeten Familie einen Monat lang Auszeit. In diesem Jahr erstmals ohne Kinder, keine erzieherischen Verpflichtungen.
Doch wenige Stunden vor der Abreise steht Sarah unerwartet vor der Tür, die 20-jährige Tochter von deutsch-israelischen Freunden, die vor fünf Jahren ermordet wurden. Auch wenn sie Sarah seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat, bringt es die Ich-Erzählerin nicht über das Herz, der jungen Frau und ihrem Hund die Tür zu weisen und lädt sie ein, in den Urlaub mitzukommen.
In Form eines Urlaubstagebuchs berichtet die Ich-Erzählerin, die von Beruf Autorin ist, von den Erlebnissen auf der Insel. Auf der Metaebene über das Trauma des Mädchens, von der Verarbeitung von Traumata im Allgemeinen, vom Tod und vom Weiterleben. Das menschliche Gleichgewicht wiederfinden.
Das erste Teil des Buches verspinnt exzellent mehrere Ebenen. Eine dichte Symbolsprache verknüpft Leben und Tod, die um Balance kämpfen. Der Tag vibriert in Farbenreichtum, das Schwarz der Nacht lässt die menschlichen Körper weiß leuchten. Das Meer als Metapher für das Totenreich, das Schiff für die Lebensreise, die Delphine, die den Wechsel vom Leben zum Tod symbolisieren. Das Schiffsunglück aus Sarahs Kindheit als Spiegel der Turbulenzen, die auf die Familie zukommen und die im Selbstmord von Sarahs jüngerem Bruder kulminieren. Und viele, viele Symbole mehr.
Dem leichten Erzählton des Urlaubstagebuchs setzt die Autorin Auszüge aus Sarahs Patiententagebuch aus der psychiatrischen Klinik entgegen, in dem sie versucht, nach dem Tod der Eltern die Selbstzerstörung zu überwinden und wieder ins Leben zu finden.
In der Mitte des Buches etwa lässt die Autorin ihr Alter Ego, die Ich-Erzählerin, die Form der Parabel, deren Bogen sie bis dahin so fesselnd gespannt hat, in Frage stellen. Man solle die Dinge direkt ansprechen. Das tut sie im weiteren Verlauf der Geschichte auch, wodurch das Gewebe der Erzählung seine delikate Feinheit verliert und manche Episoden sehr grob auf das Thema hingehobelt wirken.
Wie Sarahs Geschichte ausgeht, möchte ich hier gar nicht verraten, nur soviel, wie man ziemlich am Anfang der Geschichte erfährt: Sie träumt davon, eine Kranich-Station in Israel aufzumachen. Der Kranich, ein Zugvogel, ist oft ein Symbol für Unsterblichkeit und langes Leben.
Fazit: Ein spannendes Buch, bei dem der Autorin sehr viel gelungen ist, bei dem sie manchmal vielleicht zu viel gewollt hat.
Über die Autorin:
Margit Schreiner wurde 1953 in Linz geboren. Sie studierte Germanistik und Psychologie in Salzburg und ging 1977 für drei Jahre nach Japan. Sie lebt seit 1983 als freie Schriftstellerin zunächst in Salzburg und Paris, später in Berlin und Italien – heute wieder in Linz. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, „Das menschliche Gleichgewicht“ wurde z.B. mit dem Johann-Beer-Literaturpreis 2015 ausgezeichnet.
Verlag: Schöffling & Co
Erscheinungsdatum: August 2015
Hardcover, 240 Seiten
ISBN: 978-3-89561-280-0
UVP: € 20,60
Katja Csukker
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